Shootout and a hell’s night
In Grayling fand ich einen Unterstand oben am Steilhang. Super, da habe ich ja schon mein Über-Zelt und brauche mir keine Sorgen machen, dass ich morgens ein nasses Zelt einpacken muss. Aufebauen und pennen – dachte ich. Unten am Flussufer waren noch Leute unterwegs, die offenbar weder nüchtern noch einer Meinung zu sein schienen – soweit ich das aus dem Zelt hören konnte. Was allerdings sehr deutlich zu hören war, war ein fortwährendes, aufforderndes „Do it, do it. You can do it. Do it!“. Wer da auch immer mit wem unterwegs war, war offensichtlich auf Krawall aus. Während ich so dalag im Zelt und anhand der Stimmen vernehmen konnte, dass sie sich meinem Zelte jedenfalls nicht näherten, dachte ich darüber nach, wo ich Bärenspray, Axt und Paddel als potentielle Verteidigung drapiert hatte und beschloss, mich auf gar keinen Fall freiwillig außerhalb des Zelts zu begeben – dann konnte mich auch keiner der Trunkenbolde aus Langeweile in irgendwas hineinziehen. Während sich die Stimmern mit einem „Do it, do it!“ dann sogar entfernten, gab es plötzlich ein paar dumpfe, klatschende Töne, die nach Fausthieben klangen. Die Stimmen verstummten. Danach gab es noch Stimmen, die aber keinesfalls mehr so deutlich klangen und dann ganz verstummten. Kurz danach gab es von weiter entfernt eine Salve Schüsse. Bäm. Bämbämbämbäm. Eine (vorher) volle Revolvertrommel würde dazu passen. Dann war nichts mehr zu hören. Auf gar keinen Fall werde ich das Zelt verlassen sondern bleibe hier flach am Boden liegen. Merkwürdigerweise schlief ich irgendwann ein.
Was für eine Nacht – und wo bin ich hier nur gelandet? Meine Blase trieb mich morgens aus dem Zelt – bis auf das Wetter wirkte alles ruhig und friedlich. Auch unten am Fluss keine verletzten Menschen, wie ich schon befürchtet hatte. Hm. Ich machte es mir unter dem Unterstand bequem und briet Reis an, um Rührei darunter zu mengen. Herrlich. Mir kam in den Sinn, dass ja Sonntag war – sechs Tage unterwegs! Also war gestern Samstag, dessen Abend sicherlich einige zum Feiern ausgenutzt haben.
Das Wetter war kalt, windig und nieselig. Ich hoffte, dass es – wie üblich – abends besser wurde. Das Zelt hatte ich schon abgebaut. Einerseits, um bei einem guten moment keine Zeit zu verlieren. Andererseits, um mein Zelt nicht in der Gefahrenzone der Feuermachversuche von ein paar Einwohnern zu überlassen. Denn unter dem Unterstand war eine Feuerstelle, die der Allgemeinheit galt. Also tigerte ich ein wenig durch Grayling und versuchte über die Karte, noch ein wenig über den kommenden Flussabschnitt zu erfahren. Die Jugend wusste aber nichts, und ältere traf ich nicht an. Irgendwann wurde mir kalt und langweilig. Ich fand Unterschlupf in der Tribal Hall. Die Tür war offen, es war geheizt und Sofas zum Hinlümmeln standen herum. Puh. Meine Erleichterung währte nur kurz. Ich bekam Besuch von zwei jungen Männern, die erst furchtbar nett waren und hoch interessiert an mir und meinem Vorhaben. Schnell war jedoch feststellbar, dass die beiden (offenbar noch immer) betrunken waren. Die Flasche Wodka ging dann unverblümt zwischen den beiden hin und her (Last Chance war offenbar nicht weit genug weg?). In einem hellen Moment wurde sie mir auch angeboten, was ich jedoch dankend und so höflich es ging ablehnte. „Drink with us“. Gute Güte. Ich gab vor, zu nippen und reichte die Flasche weiter. Einer der beiden hatte ein blaues Auge. „What happened to you?“ fragte ich. „He disagreed with someone stronger“, bekam ich vom anderen lachend zu hören. Ich reimte mir eins und eins mit letzter Nacht zusammen. Draußen war das Wetter immer noch murks. Wo konnte ich denn nur hin, um alles in Ruhe auszusitzen? So lospaddeln war auch keine Option und hier bekam ich alles zwei Minuten die gleichen Fragen gestellt. Boa. Plötzlich gab es draußen Motorengeräusche. Eine Quad (oder four-wheeler) fuhr vor, jemand kam herein und zeigte auf mich. „You. Canoe guy. Come with me.“ Perfekt, dachte ich. Besser kann ich wohl „leider“ nicht weg. Ich entschuldigte mich und ging mit dem Neuankömmling nach draußen. Er deutete mir an, auf die Quad hinten aufzusteigen und los gings. Mich überkam das ungute Gefühl, dass dies vielleicht auch nicht die allerbeste Idee gewesen sein könnte, aber da kamen wir auch schon an einem Haus an. Drinnen erwarteten mich zwei Männer, die auf einem Sofa und auf einem Sessel rumlungerten und offenbar auch Langeweile hatten. Eine Wodka-Flasche stand in der Mitte. Innerlich verdrehte ich die Augen. Himmel. Der Herr des Hauses hatte fast vollständig zugeschwollene Augen. „I was shot.“ war die Antwort auf meine direkte Frage. Von wem und wodurch war nicht richtig aus ihm rauszubekommen. Nachdem ich auch hier irgendwann immer wieder die gleichen Fragen beantworten musste (what about the [dunkle dt. Vergangenheit]? And Volkswagen, good trucks?), schaute ich nach draußen. Immer noch so ein Mistwetter. Plötzlich zwei neue Besucher. Die beiden aus der Tribal Hall gesellten sich dazu. Mir wurde es zuviel und ich log, dass sich das Wetter verbessert habe und ich unbedingt jetzt los müsse. Ich verabschiedete mich und lief unter stetigen Aufforderungen, doch noch mitzutrinken, nach draußen. Der Quadfahrer fühlte sich offenbar befleißigt, mich sicher zum Fluss zu geleiten (diesmal ohne Quad). Er hatte beim Wiederanziehen seiner Schuhe links und rechts vertauscht, ging dafür aber recht schnell zu Fuß. Ich wollte hier nur noch weg, so leid es mir tat. Ich erinnerte mich an einen der Ratgeber für den hohen Norden. „Don’t stay in towns during the weekend unless you have friends or stay in a B’n’B.“ Oder „If you don’t fit in, find somewhere else.“ Es war so traurig und ich hoffte inständig, dass ich nur Pech hatte und allen, besonders dem Rest der Einwohner durch meine überstürzte Abreise unrecht tat. Schnell verschwand ich unten am Fluss im Kanu, während der Mann von der Quad noch wankend oben am Steilufer stand. Das Wetter hatte sich tatsächlich etwas verbessert und ich winkte ein letztes Mal.
Das Wetter nahm schnell den unruhigen, nieseligen und windigen Zustand wieder an. Die Strecke bis zum nächsten Dorf, Anvik, war nur 19 Meilen weit. Es kann nur besser werden, dachte ich. Dachte ich… Der Wind frischte auf, obwohl es schon nachts war. Es war wegen des schlechten Wetters dunkler als sonst und das Ufer zur rechten Hand bestand fast ausschließlich aus Abbruchkanten, wie ich sie schon am Südufer von Koyukuk Island hatte, mit unruhigem Wasser, dass durch den Gegenwind noch unruhiger wurde. Kein Platz zum Anlegen und es regnete munter weiter. Ich erinnerte mich gruselnd an eine Geschichte von Igor aus 2014, der sich in den Flats bei Sturm unter einer überhängenden, wankenden Abbruchkante festgefahren hatte. Brrr… Es half alles nichts. Weiterpaddeln. Weiterpaddeln. Weiterpaddeln. Erst kurz vor Anvik wurde es besser, so dass ich die freie Fläche (vor der ich schon Respekt aufgebaut hatte) an der Mündung des Anvik Rivers gefahrlos queren und das Stückchen des Anvik Rivers so hinaufpaddeln konnte, damit ich Anvik nicht verpasste. Völlig durchnässt, durchgefroren und ausgepowert erreichte ich Anvik und fand bei der zweiten Ausstiegsmöglichkeit eine gute Anlegestelle, neben der über einem Steilufer ein schöner Platz zum Zelten vorzufinden war. Ein kleiner schicker Unterstand war auch da, den ich (nachts um halb drei) flugs in Beschlag nahm um meine Sachen zu trocknen. Es wirkte hier vieles friedlicher. Nur die Mücken waren furchtbarer als sonst; mit schweren Verlusten entkam ich ins Zelt. Was für ein Vergleich mit Grayling. Zutiefst beruhigt schlief ich ein.
Paddelbilanz: 19 Meilen (31,1 km)

Belohnung nach einem Höllenritt in der Nacht: Mein Zeltplatz in Anvik
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