Archive for ‘Juni, 2022’

Marshall – Pilot Station – Hill’s Island

Des Teufels Ellenbogen hatte mich buchstäblich ereilt. Der Körper schmerzte, ich spürte die Erschöpfung. Heute würde/musste ich an Marshall vorbeikommen. Das Dorf, bei dem Ken Chase aus Anvik mir geraten hatte, bei einem Marvin Parent vorbeizugucken.

Dazu gab es drei Varianten zu paddeln. Zwei Eingänge zum Wilson Creek Slough vor und entlang Arbor Island, und einen einfachen direkt nach Arbor Island. Bei letzterem fürchtete ich, nicht schnell genug das Ufer von Marshall zu erreichen und am Dorf vorbei getrieben zu werden. Ich entschied mich also für den zweiten Abzweig in den Wilson Creek slough, was sich allerdings als gar nicht so einfach entpuppte (der erste Abzweig mündete nämlich genau am zweiten Abzweig wieder in den Yukon). USGS-Karten, die ausgedruckten Satellitenbilder von google Maps und das GPS-Gerät zeigten allesamt nicht übereinstimmende Ergebnisse im Abgleich mit der Realität. Ich verließ mich auf meine Intuition – goldrichtig. Was folgte, war eine elendig lang dauernde, eintönige Strecke, da die Strömung hier spürbar versackte. Wenigstens konnte man den Wind hier nicht so stark spüren.

Jedesmal, wenn man sich einem der Dörfer am Fluss nähert, stellt sich einem die Frage „wann ist der richtige Zeitpunkt bzw. richtige Platz, um anzulanden?“. Nicht zu früh, dann muss man im Dorf zuviel zu Fuß unterwegs sein. Aber auch nicht direkt an einer „Hauptanlandestelle“, da ist man zu sehr im Weg und die Klamotten sind zu einfach sichtbar und zu leicht für jedermann zu erreichen. Diesmal war es einigermaßen einfach, denn ein mit einer Motorsäge hantierender Mann winkte mich zu sich heran. Wesley, so stellte er sich vor, schnitt Treibholz für sich zurecht. Er horchte mich aus, was ich denn schon alles gesehen hätte und referierte danach großzügig über Bären. Ob ich denn schon wisse, was ich mit dem Kanu nach dem Ende der Tour machen würde – er würde es gern kaufen danach… da ich es selbst noch nicht wusste, konnte ich ihm das natürlich nicht versprechen. Zumindest war hier bei ihm ein guter Ort, um das Boot zu parken. Ich holte mir noch schnell die Wegbeschreibung zu Marvin Parent (der offenbar einen der Supermärkte hier führte) und los ging es.

Marshall war ein sehr weitläufiges, aber auch schönes Dörfchen. Ich fragte mich in dem riesigen Laden durch, aber der Marvin hatte keine Zeit, ich wurde aber zu 19 Uhr zu ihm nach Hause eingeladen. So postierte ich mich vor dem Laden, breitet die Karten aus und überlegte mir, wie es denn weitergehen könne. Ca. 13/14 Meilen nach Marshall hatte ich auf den Satellitenbildern eine große Sandbank in der Mitte des Flusses ausgemacht, die wäre doch hervorragend geeignet, dachte ich mir. Allerdings gab es diese „Insel“ nicht auf de USGS-Karten. Es dauerte nicht lange, da wurde ich angesprochen, was ich denn vorhätte, ob ich Hilfe gebrauchen könne… (Merke: sich vor einem Lebensmittelladen Karten-studierend in Paddelklamotten zu postieren, zieht hilfsbereite Menschen geradezu an.) Schon hatte ich die zweite Einladung für den Abend – und ein Abendessen. Jack George lud mich zu sich und seiner Familie ein. Eine Beschreibung, dass ich doch am besten um Ufer entlang dorthin paddle, gab es gleich dazu.

Jack
Jack meinte, ich könne ja im Anschluss den Marvin besuchen und sollte danach unbedingt nochmal bei ihm vorbeikommen. Daher ging ich zunächste zu Fuß – dann würde ich später besser einschätzen können, wo ich wieder anlanden musste. Jack war so etwas wie eine Mischung aus Feuerwehrmann und Seenotretter. Letzteres aber in der Regel eher „zu spät“. Die meisten, die in den Yukon fallen, tauchen nicht wieder auf und werden dann von Jack und Kollegen in langen Suchen und mit einem Schleppseil am Grund des Flusses meistens irgendwann gefunden. Er sei immer wieder überrascht, wie viele nicht richtig schwimmen könnten und/oder ohne Schwimmweste rausfahren mit Ihren Motorbooten. Hinzu kommt, dass sich die Sedimente des Yukonwassers blitzschnell in den Fasern der Kleidung (besonders in den Taschen von Hosen und Hemden) festsetzten und so die Kleidung unglaublich schwer machten. Man unterschätze dies offenbar – neben der Kälte des Wassers. Zu schöneren Themen: bei Jack und seiner Familie gab es Hühnchen und Reis. Ich dachte, ich wäre im Himmel, so lecker schmeckte es. Zum Abschluss bekam ich nach dem Familienfoto noch einen Beutel voll mit getrockneten Lachsstreifen, den ich nach einigen erfolglosen, dankend-höflichen gemeinten Ablehnungsversuchen dann doch annahm. (Ich würde nie wieder so etwas ablehnen – viel zu gut und ein Ablehnen ist unhöflich!) Schlussendlich wurde mir erklärt, warum ich nach Marvin noch einmal hierher kommen sollte, denn nachdem ich Jack ja schon vorm Supermarkt über meinen Plan, die nicht auf den USGS-Karten verzeichnete große Sandbank als Lagerplatz zu nehmen aufgeklärt hatte, wollte er mich abends „noch ein Stück mitnehmen“ in bzw. auf seinem Motorboot. Es solle schließlich später noch regnen und er habe flussabwärts noch eine Fischerhütte, zu der er wollte.

Marvin
Weiter ging es der losen Beschreibungen nach zu Marvin Parent. Bei Marvin gab es WLAN – also Wetterbericht und Emails. Und ungewollt 96 Whatsapp-Nachrichten, bei denen ich mich hütete, die Nase reinzustecken. Marvin und Ken Chase waren offenbar „von früher“ bekannt, genaueres war ihm aber nicht so richtig zu entlocken. Wir plauderten noch über dies und jenes (es gab traumhaften Kaffee), bevor ich mich wieder zum Strand und per Boot zu Jack George aufmachte.

(Wie ich später herausfand, sind sowohl Marvin als auch Jack in Folge 13 der Staffel 4 der Serie „Alaska State Troopers“ zu sehen, ca. ab Minute 33.)

„Schummeln“
Bei Jack angekommen, versuchten wir zunächst, das Boot angebunden hinter Jacks Skiff herzuziehen. Aus hydrodynamischen Gründen, die ich bis heute noch nicht ganz verstanden habe (es hat vermutlich damit zu tun, dass der Bootstyp Wenonah Prospector (kein Kiel) a priori keinen ganz vorn zentrierten Anbindepunkt hat, evtl. auch mit dem nach vorn verlagerten Schwerpunkt wenn niemand im Boot sitzt), kann mann ein Kanu aber nicht „geradewegs“ im Wasser ziehen. Es schlingert links und wieder rechts und je schneller man „fährt“, desto gefährlich näher kommen die Wendepunkte eine Kenterung – wir gaben es recht schnell auf und ich setzte ab dann die Reise wieder mit Strömung und Muskelkraft fort. Jack verschwand winkend in einem Seitenarm und überlies mich dem Yukon. Es dauerte nicht lange, bis der angekündigte Regen einsetzte. Da die Paddelhose mittlerweile zur Everyday-Pinte aufgestiegen war, hampelte ich nur mit der Regenjacke – gerade noch rechtzeitig. Es schüttete buchstäblich aus Eimern, wie ich es noch nie erlebt habe. Ich fing an, das Boot mit dem aufgeschnitteten Milch-Kanister leerzuschöpfen und hatte schon Sorge, dass ich nicht schnell genug sei, aber nach ca. einer halben Stunde war der Spuk vorüber. Die Wolken dunkelten jedoch immer noch alles ab. Sowohl GPS als auch meine manuell korrigierte USGS-Karte ließen mich im dunklen „da vorne müsste doch die Sandbank kommen“ schlussfolgern. Aber es tat sich nichts. Jacks Beschreibung nach müsste ich auch erst nach links schwenken, bevor ich etwas zu Gesicht bekäme. Das erste mal auf dieser Tour holte ich das Fernglas heraus. Mühsam suchte ich im Restlicht den Horizont ab – nichts. Nervös paddelte ich weiter, es wurde dunkler und dunkler, doch schließlich erschien am Horizont ein hoch aufragendes Etwas im Bild. Treibholz. Die Sandbank wird doch jetzt wohl nicht dank des Schauers überspült worden sein? Nein, war sie nicht. Ich konnte nach einiger Zeit beruhigt anlanden – eine riesige Sandbank ohne Mücken erwartete mich. Ein absoluter Traum. Zwar gab es hier und da ein paar Pfützen und ich musste das Boot zur Sicherheit weit an Land aus dem Wasser holen, aber es war wirklich unglaublich schö hier. Weit und breit Sand und beste Zeltmöglichkeiten – ich schlug meines natürlich an dem riesigen Baumstamm auf, den ich aus der Ferne gefunden hatte. Ich konnte wirklich beruhigt schlafen gehen.

Paddelbilanz: ca. 14 Meilen bis Marshall, ca. 17 Meilen bis zur Sandbank (wieviel geschummelt unbekannt)


Ich schlief schlecht in der Nacht. Am Morgen rüttelten immer wieder leichte Böen am Zelt. Ich kroch heraus und baute pröddelnd-frühstückend das Lager ab. Offenbar hatte ich nicht so richtig Bock. Und der Wind kam diesmal als Rückemwind für heute aus Ost-Südost. Jon Pitkas aus Russian Mission hate mir noch eine Abkürzung des langgezogenen Bogens vor Pilot Station gezeigt, und mit Jack George hatte ich das noch einmal besprochen. An einer Stelle zweigt vom Yukon ein kleiner Seitenkanal ab, der direkt in den Atchuelinguk (orig. Chuilanuk) mündet. Von dort würde ich sehr einfach auf die Seite kommen, an der Pilot Station liegt – ohne die riesiege Wasserfläche queren zu müssen, in der von rechts gleichzeitig der Atchuelinguk einmündet. Bei der Windlage erinnerte mich das alles zu sehr an den ersten Versuch in den Yukon Flats, als auch von rechts die Wassermassen des Porcupines kamen und mit dem Wind zusammen ein allerfeinstes Arrangement abgaben…

Wer glaubt, dass Rückenwind alles einfacher beim Paddeln macht, irrt. Natürlich kam er nicht nur von hinten, sondern meist schräg von der Seite. Es blies und blies, das Kanu konnte ich nur mit höchstem Kraftaufwand auf Kurs halten, bis es mir nach ca. 5 Meilen zu blöd und anstrengend wurde. Anlanden. Hurra, das ganze Ufer voller frischer Bärenspuren. Riesiege Bärenspuren. Ich baute den Shelter auf, legte die Plane darunter und versuchte den Wind abzuwarten. Pennen konnte ich angesichts der Bärenspuren nur schlecht, und der Windschutz hatte seinen Preis: ich konnte nicht alles um mich herum sehen. Nach ca. zwei Stunden flaute es endlich – etwas – ab und ich machte wieder los. Angenervt vom Wind wechselte ich auf die Lee-Seite des Ufers, um dann nach einiger Zeit zu erkennen und zu befürchten, dass ich den Eingang zur Abkürzung möglicherweise verpasst hatte. Also wieder rüber. Glück gehabt: Der Eingang zu diesem natürlichen Stichkanal lag viel weiter nördlich als vorher mit Jon und George diskutiert. Glückselig fuhr ich ein und… beinahe-Windstille erwartete mich. Die Sonne brannte, ich musste Sonnebrille hervorholen und Kleidung ablegen und der Wind war nur noch in den Pappeln und Weiden zu hören. Die Raben glucksten und bra-akten unablässig aus den Baumwipfeln. Pause. Herrlich!

Nach der verdienten Pause ging es raus auf den Atchuelinguk, der nur kurz danach in den Yukon einmündet. Wie immer an den Einmündungen verwirbeln sich die Strömungen und es gibt kabbeliges Wasser, besonders wenn es windig ist – hier und jetzt war es aber nur etwas lästig. Schnell paddelte ich an den ersten Bretterbuden von Pilot Station vorbei. Als ich kurz anlandete, um nach einer guten Ein-/Aussatzstelle zu fragen, wollte man mir gleich furchtbar schöne Schnitzereien verkaufen. Ich beschloss, doch noch ein wenig weiterzupaddeln. Der „Strand“ von Pilot Station ist sehr weitläufig, und überall heizen die Jugendlichen mit Ihren Quads rum. „Wer sagt mir denn, dass die mich im Dunklen im Zelt sehen?“, fragte ich mich, als mir schon eine Traube Kinder entgegenrannte. „Ohje, das kann ja was werden.“ Ich nahm schnell die wichtigen Sachen unauffällig an mich, andere versteckt ich im Boot und schloss dann die Persenningteile, dann marschierte ich nach dem Beantworten von ein paar Fragen Richtung Dorf. Ich schnappte mir im Store nur eine Cola und einen Schokoriegel zum Sofort-Vertilgen und kaufte ein paar neue Äpfel, dann zog ich wieder Leine. Das Dorf war echt schön, aber hier war eindeutig zu viel los am Strand. Bevor ich hier noch rumsuchete für einen ruhigeren Platz, paddelte ich noch drei Meilen weiter zu Hill’s Island, wo ich auch erst nach einigen Versuchen eine gute Stelle fand (hier war zwar Ruhe, aber das Ufer war unfassbar matschig – kaum eine Möglichkeit, ordentlich anzulanden. Ich knabberte nur noch an einem Fischstreifen von George und fiel todmüde auf den Schlafsack. Sogar Fotos vergaß ich. Nur eines, dass ich aus dem Zelt heraus schoss, weil ich schon zu müde war 🙂

Paddelbilanz: 16 Meilen bis zum Eingang der Abkürzung, 9 weitere Meilen bis Pilot Station (ohne Abkürzung wären es ca. 7 Meilen zusätzlich gewesen), 3 Meilen bis Hill’s Island.

Paddelbilanz insgesamt: maximal 59 Meilen (ohne „Schummeln“), also maximal 95 km.

Blick auf Hill’s Island, flussabwärts